Die ausgebremsten Heiligen

Oder: Als man den Schlüssel der Erkenntnis stahl
von Philip G. McLemore 

Aus SUNSTONE, September 2012

 

Aber wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr das Reich der Himmel vor den Menschen zuschließt! Ihr selbst geht nicht hinein, und die hinein wollen, die lasst ihr nicht hinein.” Matthäus 23:13

 

Wehe euch Gesetzesgelehrten, denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen! Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, welche hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert!” Lukas 11:52

 

Vor einiger Zeit habe ich zwei Artikel für das Sunstone Magazine über Meditation und die Notwendigkeit der Entwicklung einer mystischen Tradition im Mormonismus geschrieben. Da ich auf den Konzepten in diesen Artikeln aufbauen möchte, habe ich in der ersten Fussnote zu diesem Artikel eine kurze Zusammenfassung geschrieben. Die vorangegangenen Artikel können in Gänze auf der Sunstone Website gelesen werden.

Religiöse Institutionen entwickeln instinktiv Lehren, Praktiken und Kulturen, die ihre Mitglieder, abhängig vom Willen der Organisation, tendenziell eher in den frühen Phasen ihrer spirituellen Entwicklung fest halten. Diese frühen Phasen zeichnen sich durch Gehorsam, Konformität und Anpassung, Loyalität und einer sehr engen Sicht auf Moral und äusserlicher religiöser Praxis aus. Auch wenn diese Dinge zunächst hilfreich sind, können sie irgendwann begrenzend und restriktiv werden, wenn die Person beginnt, ihr spirituelles Potenzial zu entwickeln. Theoretisch ist es das Ziel einer Kirche, das Mitglied in eine tatsächliche Gotteserkenntnis zu führen, was dann zu spiritueller Wiedergeburt und zu einem Eingang in das Reich Gottes führt; tatsächlich ist es aber so, dass Kirchen letztendlich diese Form transformativer Erweckung und Erkenntnis behindern, damit die Organisation ihre Vorherrschaft erhalten kann. Die sehr menschliche Konsequenz dieser Tendenz institutionellen Verhaltens ist Langeweile und Frustration, da Kinder Gottes mit göttlichem Potenzial – die oft bereit sind, sich in die wunderbar geheimnisvollen und aufregenden Tiefen der Beziehung zu Gott und der Gotteserkenntnis hinein zu entwickeln – ständig in der ersten Klasse der Evangeliumslehre festgehalten werden, während sich ihre Seele nach der Hochschulausbildung im Sinn und im Herzen Christi sehnt.

Dies ist der klassische Konflikt zwischen exoterischer (oder äusserlicher) und esoterischer  Religion, der innere Pfad zur Einheit mit Gott. Alle alten spirituellen Meister, einschliesslich Jesus, haben eindeutig gelehrt, dass sich der Prozess spiritueller Reifung von exoterischen, konkreten und äusserlichen religiösen und spirituellen Praktiken hin zu esoterischen, subtilen, unsichtbaren und inneren Praktiken entwickelt. Das Exoterische ist notwendig und grundlegend, war jedoch niemals als Endziel gedacht.

Als Alan Watts in den 1940er Jahren seinen Dienst als episkopaler Priester verrichtete, schrieb er das Buch “Behold the Spirit”, ein Buch mit dem einzigen Zweck, den lebendigen Geist des Mystizismus wieder in die christliche Kirche zu bringen, von der Watts fand, dass sie sich zu einer toten Orthodoxie entwickelt habe. Zu Anfang des Buches macht er bereits eine tiefgreifende Beobachtung, die ich für extrem relevant für den zeitgenössischen Mormonismus halte.

Heute verstehen mehr und mehr Menschen innerhalb und ausserhalb der Kirche und in unterschiedlicher Klarheit, dass das, was sie sich von der Religion wünschen, weder in einer Ansammlung von theologischen und rituellen Symbolen, noch in einer Reihe von Moralgrundsätzen zu finden ist. Sie wollen mit seinem kreativen Leben und seiner Macht angefüllt werden; sie wollen eine bewusste Erfahrung der Einheit mit der Wirklichkeit selbst… Sie wissen nicht, dass Glaubensbekenntnisse und Sakramente nur vollständig im Sinne eines mystischen Lebens erfasst werden können.
Und sie wissen diese Dinge deshalb nicht, weil die Treuhänder und Lehrer der Kirche dies zum grössten Teil auch nicht wissen. Zwar geben sie offiziell zu, dass das ewige Leben in der Erkenntnis Gottes zu finden ist – und in nichts Anderem – dennoch interessieren sich die Kirchen allerorten für alles Mögliche ausser der Erkenntnis von Gott… Was ist der Sinn moralischer Grundsätze ohne moralische Macht und moralische Vision? Die Erkenntnis Gottes, die Realisierung der Einheit mit Gott – mit einem Wort: Mystizismus – ist notwendig.
Sie ist nicht lediglich die Blume der Religion, sie ist vielmehr die Saat, die in der Blume ihre Erfüllung zeigt und der die Wurzel als Ursprung vorangeht. Es gibt keine “höhere Religion” ohne den Mystizismus, weil es auch kein Erfassen der Bedeutung der Wirklichkeit ohne den Mystizismus geben kann… Und das ist genau das Problem: mystische Religion ist keine Technik, ein Mittel, das man in verträglicher Dosis verschreiben könnte. Sie ist das Wirken des Heiligen Geistes.

Als früherer Meister des exoterischen/äusserlichen Pfades der Erkenntnis kann ich Zeugnis davon ablegen, dass ein mentales, emotionales und kulturelles Anhängen an exoterische Religion ein Hindernis für den Eintritt in das Reich und die Gegenwart Gottes sind.

 

Zwei Ereignisse im Jahre 2010 bewegten mich dazu, dieses Thema anzusprechen. Das erste war die Entscheidung der Kirche, den Leitfaden Grundbegriffe des Evangeliums für die Priestertums- und FHV Klassen für einen Zeitraum von zwei Jahren zu verwenden. Wenn ich mich richtig erinnere, war der Leitfaden ursprünglich gedacht als Studienhilfe für junge Männer, die in den Militärdienst gehen und die zum grössten Zeit keine Vollzeitmissionen absolviert hatten oder absolvieren würden. Dieser Leitfaden gab ihnen ein Nachschlagewerk für grundlegende Lehre und Kirchengeschichte für das persönliche oder gemeinsame Studium in der Gruppe. Später wurde die Nutzung dieses Leitfadens auf Evangeliumsaufbauklassen und als Belehrungshilfe von Eltern für Kinder ausgeweitet. Diesen Grundlagenleitfaden in Klassen und Kollegien von Erwachsenen zu verwenden, die das Evangelium studiert und gelebt hatten und die mit unter Jahrzehnte in verantwortlichen Positionen gedient hatten, war bestenfalls spirituell hinderlich und schlimmstenfalls beleidigend. Diese Massnahme widersprach auch der Ermahnung Pauli an die Mitglieder der Kirche, sich der spirituellen Milch zu entwöhnen und sich dem geistigen Fleische zuzuwenden: “Darum wollen wir die Anfangsgründe des Wortes von Christus lassen und zur vollen Reife übergehen, wobei wir nicht nochmals den Grund legen mit der Buße von toten Werken und dem Glauben an Gott, mit der Lehre von Waschungen, von der Handauflegung, der Totenauferstehung und dem ewigen Gericht.” Perfektion bedeutet Reife und Ganzheit, eine Vorbereitung für die Einheit mit Gott, nicht eine Rückkehr zu spiritueller Infantilität, was Paulus im 1. Korinther 13 als “stückweises” Erkennen bezeichnet hat. Wenn die Kirche ihren Mitgliedern nur gestattet, “stückweise” zu erkennen, dann nimmt sie ihnen den Schlüssel der Erkenntnis, der das Reich Gottes aufschliesst.

Die zweite Sache, die meinen Entschluss gefestigt hat, dieses Thema anzusprechen war eine verblüffende Löschung einer Passage aus Lektion Nr 15 des Lehrerleitfadens für die Klasse über das Alte Testament. Als einer von zwei Lehrern der Sonntagsschule in meiner Gemeinde war ich froh, diese Lektion belehren zu dürfen, da sie eine der für mich schönsten Verse im Alten Testament enthielt: Numeri 11:29. Bevor ich den Leitfaden aufschlug, dachte ich bereits über die Bedeutung und das Potenzial dieses Verses zu spiritueller Entwicklung zu ermutigen. An früherer Stelle im 11. Kapitel erwählt ein überwältigter Moses unter der Anweisung des Herrn 70 Älteste, die ihm helfen sollten Israel zu regieren; der Herr segnet dann diese Ältesten mit seinem Geist und sie fangen an zu prophezeien. Josua ist darüber bestürzt und bittet Moses darum, es ihnen zu verbieten. Aber Moses antwortet in Vers 29:,”Aber Mose sprach zu ihm: Eiferst du für mich? Ach, dass doch das ganze Volk des Herrn weissagen würde! Dass doch der Herr seinen Geist auf sie legen würde!

Moses war nicht eifersüchtig und er hatte auch keine Angst davor, dass andere geistige Gaben und Fähigkeiten erlangten; stattdessen wünschte er sich diese geistigen Gaben für alle! Das sollte doch, so dachte ich, sicherlich ein ausgezeichneter Stoff für eine lebendige Diskussion in der Klasse sein. Aber als ich dann schliesslich in den Leitfaden schaute, war ich erstaunt. Die spirituell bereichernde Botschaft in Vers 29 wurde vernachlässigt zu Gunsten einer Betonung der Rebellion von Aaron und Miriam gegen Moses in Kapitel 12 und der Lehre, dass Kirchenautoritäten grösseren Zugang zu Offenbarung haben als einfache Kirchenmitglieder. Eine der empfohlen Fragen war: “Was sind die Grenzen für unser Recht, Offenbarung zu empfangen?” Es gab keinen Geist der Begrenzung in der Aussage von Moses. Diese Lektion dafür zu verwenden, den Fokus auf angebliche Begrenzungen von Kirchenmitgliedern zu legen, anstatt schwerpunktmässig eher den Glauben an ein grenzenloses Reservoir des Geistes in uns allen zu betonen, das mit der Gnade und Liebe Gottes erfolgreich angezapft werden kann, ist spirituell hinderlich für geistige Entwicklung.

George Pace war ein populärer Professor für Religion an der Brigham Young Universität, der seine Studenten dazu ermutigte, eine reichhaltigere Gebetskultur und eine tiefere Beziehung zu Gott und Christus anzustreben. Viele Studenten und andere Mitglieder der Fakultät beantworteten diese Einladung mit Freuden. Leider handelte eine kleine Gruppe von Personen unreif und masslos, was verständlicherweise eine Antwort von Seiten der Generalautoritäten nach sich zog. In diesem Fall war es Elder Bruce R. McConkie, der das Problem an der BYU im Jahre 1982 ansprach. Anstatt aber um Reife und Balance bemüht zu sein und bei den Studenten und Lehrkräften, die ja eigentlich nach tieferem spirituellem Wachstum trachteten, Überzeugungsarbeit zu leisten, rügte Bruce R. McConkie George Pace und stigmatisierte “übertrieben Eifer” und langes Beten. Er plädierte für den “mainstream” der Kirche und ihre “normale und gängige Praxis der Gottesverehrung”. Er ermahnte die Zuhörer auch, “eine andächtige Distanz” zwischen sich und den Personen der Gottheit zu wahren.

Leider fokussieren der “mainstream” der Kirche und die “normale und gängige Praxis der Gottesverehrung” tendenziell nun einmal das Äusserliche, was dazu führt, dass auch nach Jahrzehnten eines kirchenkonformen Lebens oder des Dienstes in Berufungen nur wenige Mitglieder eine spirituelle Wandlung oder Wiedergeburt erfahren. Es scheint mir als hätten Nephi, Jakob, Enos und Alma sogar sehr viel “übertriebenen Eifer” und eine Verpflichtung zu langem Beten an den Tag gelegt, um den Willen Gottes zu erfahren. Lukas beschreibt, wie Jesus “die ganze Nacht im Gebet” zubrachte 6. Kann ich christusähnlich werden, wenn ich gerade mal fünf Minuten bete? Diesen “andächtige Distanz”-Teil aus Bruce R. McConkies Ermahnung finde ich sonderbar, wenn ich sie im Lichte des Neuen Testamentes sehe, das uns dazu einlädt, die Braut Christi zu sein oder Jesu Fürbitte für uns, mit ihm eins zu sein, so wie er eins mit dem Vater ist.

Die Herangehensweise von Elder McConkie macht die Kirche sicherlich einfacher zu managen, aber zu welchem Preis? Ich fordere oft Mitglieder der Kirche heraus, wenigstens einmal in der Woche für eine Stunde zu beten, weil es sie dazu bringt, ihre Komfortzone der “plappern wie die Heiden”-Gebete (Matthäus 6:7-8)  zu verlassen und sie zu einer echten Erweiterung ihrer Seele führt.

Bis heute widerstehen ältere Mitglieder der Kirche meine Aufforderung und zitieren diese Ansprache von Bruce R. McConkie an der Brigham Young Universität.

 

Die Schriftgelehrten werden in der Bibel oft auch als Rechtsanwälte bezeichnet; sie waren die gelehrte Oberklasse, die die Schriften kopierten, editierten und lehrten. Sie waren für ihre Kenntnisse des Gesetzes des Mose bekannt, Israels einzige zivile und religiöse Autorität. Ihre offiziellen Interpretationen des Gesetzes wurden wichtiger als das Gesetz. Und Gehorsam gegenüber dem Gesetz und den Traditionen, die sich darum herum entwickelt hatten, wurden wichtiger als das Gesetz selbst und wurden das Maß der religiösen Treue und Spiritualität eines Menschen.

Die Pharisäer waren eine religiöse und politische Partei, die dafür eintraten, dass das Gesetz so interpretiert werden solle, wie die Schriftgelehrten es wünschten.

Jesu Verurteilung der religiösen Führer seiner Tage basierte auf drei Behauptungen:
1. Sie sind Heuchler
2. Sie verstehen die innere Bedeutung des Gesetzes und der Propheten nicht
3. Sie haben ein System aufgestellt, um spirituellen Status und Würdigkeit an externen religiösen Praktiken zu messen, was den inneren Pfad spiritueller Wiedergeburt verhinderte, dem “Schlüssel der Erkenntnis.”

Ich meine nicht, dass die HLT Kirchenführer Heuchler sind. Dennoch geben die Kirchenlehren oft nicht die innere Bedeutung der Schriften wieder. Unser spiritueller Fokus scheint auf externen Status, Würdigkeit, religiöse Praktiken und dem Bild konzentriert zu sein, das andere von uns haben. So wie bei Israel in der Zeit Jesu, so wird auch heute wieder der innere Pfad der Kommunikation mit Gott schmerzlich vernachlässigt, was die Heiligen dann stark ausbremst.

Wenn Jesus heutzutage verkleidet einen Heiligen der Letzten Tage besuchen würde, um über den Vorgang der Wiedergeburt zu sprechen, wäre ich überhaupt nicht überrascht, wenn sein Gespräch genau so verlaufen würde, wie das, das er mit Nikodemus hatte.

So wie viele “gute” Mormonen, war Nikodemus ein Experte in Checklistenspiritualität und externer Regelbefolgung. Nachdem Jesus Nikodemus begrüsst und ihm versichert, dass Gott mit ihm sei, springt Jesus gleich zur Schlussfolgerung und sagt, “Wenn der Mensch nicht von neuem geboren ist, kann er das Reich Gottes nicht sehen.” Nikodemus fragt ihn daraufhin: “Kann er etwa zum zweiten Mal in den Schoß seiner Mutter hinein gehen und geboren werden?” Jesu Vermeidung einer direkten Antwort auf diese Frage ist ein Zeichen für einen spirituellen Lehrer, der weiss, dass sowohl eine Ja- oder eine Nein-Antwort missverstanden werden muss. (Die Antwort ist Ja, da der Schoß der Schöpfung die Gegenwart Gottes ist und wir dadurch wiedergeboren werden, indem wir in seine Gegenwart eingehen). Stattdessen spricht Jesus einfach weiter “Wenn ein Mensch nicht aus Wasser und aus Geist neu geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen. Wir “sehen” also das Reich Gottes durch zunehmende spirituelle Wahrnehmung, wenn wir den Heiligungsprozess beginnen und “gehen” in Gott “ein”, wenn wir in Einheit mit Gott neu geboren werden.

In der Kirche interpretieren wir das “aus Wasser und aus Geist neu geboren” werden durch die externen Handlungen der Taufe und der Gabe des Heiligen Geistes so, als ob Jesus den Nikodemus zu einer Taufversammlung am kommenden Sonntag einladen wollte. Tatsächlich sind externe Handlungen Symbole eines subtilen, inneren, spirituellen Prozesses, der ein Teil der mystischen (mysterischen) Dimension spiritueller Wiedergeburt ist.

Der verwunderte Ausdruck auf Nikodemus Gesicht bringt Jesus dann dazu, zu sagen: “Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.” Jesus spricht hier klar über einen subtilen inneren Vorgang spiritueller Wiedergeburt und nicht über externe Handlungen.” Auch wenn der Ausdruck “neu geboren” auch im Buch Mormon verwendet wird, fühlen sich die meisten Heiligen der Letzten Tage doch mit diesem Begriff unwohl, da ihnen der innere, spirituelle Vorgang unbekannt ist und sie sich, so wie Nikodemus, wundern.

Nikodemus antwortet auf die mystische Beschreibung spiritueller Wiedergeburt von Jesus, in dem er sagt: “Wie kann dies geschehen?” Jesus antwortet: “Du bist der Lehrer Israels und weißt das nicht?”
Wie steht es um uns als Heilige der Letzten Tage? “Wissen wir” diese Dinge? Verstehen wir die innere Bedeutung der Schriften? Sind wir dem Eingang in das Reich Gottes nah? Den meisten von uns bleibt doch wohl eher nur die Checkliste äusserer Handlungen. Selbst Jene, die wissen, dass ein Heiligungsprozess der spirituellen Wiedergeburt vorausgeht glauben entweder, dass dieser Vorgang einer kleinen erwählten Gruppe vorbehalten ist oder dass er erst im nächsten Leben verwirklicht werden kann. Die wenigen, die die innere Bedeutung und die mystische Dimension der Schriften verstehen, werden jedoch ausgebremst, da die Ausübung innerer Heiligung in der Kirche nicht gelehrt oder gefördert wird. “Der Schlüssel der Erkenntnis” ist uns gestohlen worden.

 

Was geschieht also im Mormonismus, wenn nunmal der Hauptfokus auf Status, Image, Würdigkeit und externen spirituellen Handlungen liegt? Leider zeigen sich dann eine Vielzahl von Unsinnigkeiten, die von tragisch bis amüsierend reichen. Ich bringe mal einige wenige Beispiele:

1. Mein erster Missionspräsident in Brasilien war entschlossen, seine Mission zur Mission mit den meisten Taufen weltweit zu machen; und sein System war auch erfolgreich. In meinem ersten Jahr hatten wir 5000 Taufen und das mit 189 Missionaren! Aber hinter Kulissen wurden Missionare nachts aus dem Schlaf gerissen und mit physischer Gewalt bedroht, wenn sie nicht die aufgeblasenen Ziele erreichten. Andere Missionare wurden mit Ledermänteln und materiellen Belohnungen für mehr Taufen bestochen. Der Missionspräsident war so sehr damit beschäftigt, die Peitsche knallen zu lassen, dass er keine Zeit hatte, die Missionare zu interviewen oder ihre monatlichen Briefe an ihn zu lesen. Ich fand hunderte solcher Briefe im Kofferraum eines Missionarsleiters. Ich las einige der Briefe. Sie beinhalteten die tragischen Geschichten von Missionaren, die unter persönlichen Problemen und Versagensgefühlen litten, weil sie nicht 50 Menschen im Monat getauft hatten.

Unser erfolgreichster Missionar, der Missionar, der monatelang als “Kingdom Builder” nominiert worden war, lockte hunderte von Jungen in die Gemeindehäuser, um einen kostenlosen Film anzuschauen, der Film “Christus in Amerika”, und bot ihnen dann einen nagelneuen Fussball, wenn sie sich taufen liessen. Andere Missionare setzten arme und ängstliche Menschen unter Druck oder tauften einfach nur Menschen, die ihre Freunde sein wollten aber die nie die Kirche besucht hatten und auch nicht vor hatten, die Gebote zu leben. Sobald sie ihre Ziele erreicht hatten, verbrachten viele Missionare ihre Zeit mit Mädchen, gingen in die Kinos oder Schwimmbäder oder schliefen einfach nur lange und hörten Musik. Weil ich mich nicht an diesen Aktivitäten beteiligen wollte, wurde ich von einem Distriktsleiter zu einem Junior Mitarbeiter degradiert und in eine kleine Stadt geschickt, die nur zwei Missionare hatte so dass ich kein “schlechter Einfluss” mehr sein konnte. Es wurde geschätzt, dass 50-75% der zurückgekehrten Missionare aus dieser Zeit inaktiv wurden.

Ich denke, dass irgendwann die Wahrheitsbehauptungen an grobes numerisches Wachstum gekoppelt wurden. Sogar heute, trotz Elder Boyd K. Packers Vision von Missionaren, die inspirierte Evangeliumslehrer und nicht glatte Vertriebsmitarbeiter sind, bringt unsere Kirchenkultur uns dazu, dass immer noch viele unserer Missionen wie Toyota Fabriken gemanagt werden, was zu spirituellem Missbrauch von Untersuchern führt und dem Schaden von, wenn nicht der Zerstörung des Glaubens vieler unserer jungen Missionare. Wenn wir “übertriebenen Eifer” in unserer Kirche eliminieren wollen, dann empfehle ich, dass wir mit dem Missionsprogramm beginnen und nicht dem Gebet.

2. Ein Bischof sage einer Frau, dass er an der Farbe des Hemdes ihres Mannes am Sonntag sehen könne, ob er in der vergangenen Woche Probleme mit Pornografie gehabt habe. Wenn er sonntags kein weisses Hemd trug, nahm der Bischof an, er habe wieder mal Pornos geschaut. Im Angesicht einer solchen Haltung zweifelte die Schwester daran, dass sie überhaupt jemals eine intelligente oder inspirierte Hilfe von diesem Bischof erwarten dürfe.

3. Eine meiner Töchter wurde von einer Gruppe Schwestern aus ihrer Gemeinde besucht, als sich eine der Schwestern entschuldigte und gehen wollte. Sie erklärte, dass ihre Familie den ganzen Tag im Garten arbeiten wollte, damit sie einen Garten haben könne, der “einer Pfahlberufung würdig sei”. Wer entschied, dass Würdigkeit von einem hübschen Garten abhing?

Dies sind die eher sinnlosen Dinge, die geschehen können, wenn ein externer Fokus bestimmend wird. Es ist kein Wunder, dass es intelligenten und spirituell reiferen Nicht-Mitgliedern schwer fällt uns ernst zu nehmen, wenn wir uns über Hemdfarben, Cola, Schokolade und Ohrringe balgen, so als ob das ernste spirituelle Themen wären. Diese Art von oberflächlicher Zankerei ist eine Ablenkung vom inneren Pfad der Wiedergeburt.

Jesus wurde wütend, wenn er sah, wie Menschen Spiritualität an Status, Geld, Macht oder Leistung fest machten. Allzu oft wird Status und Macht im Mormonismus dazu verwendet Mitglieder zu beeinflussen; die Berühmten, Reichen, Mächtigen werden häufig für die Gesegneteren und geistig Überlegeneren gehalten. Einige der   Psychotherapeuten und Psychologen, die ich kenne, haben mir beschrieben, dass ein grosser Prozentsatz der Mormonen, die bei ihnen in Therapie sind, sich als unzureichend und mangelhaft empfinden und dass sie sich tendenziell auf Äusserlichkeiten konzentrieren, wenn sie ihre Bedürfnisse befriedigen wollen. Woran liegt es, dass gerade die Mitglieder der Kirche, die wie keine andere das göttliche Potenzial und den ewigen Wert des Menschen lehrt, sich so schuldig, ungenügend und mangelhaft fühlen? Wenn die Theologie nicht das Problem ist, dann muss das Problem darin liegen, wie wir lehren, nämlich in unserer kulturbedingten Betonung des Gehorsams von äusserlichen Handlungen des Status und der Würdigkeit, die allerdings selber kaum jemals zu innerer Veränderung führen.

 

Das grösste HLT Mantra ist “Ich weiss, die Kirche ist wahr.” Es wird auf die Seelen unserer Kinder eingebrannt und sie wachsen heran und denken, wenn es die Kirche ist, die wahr ist, dann brauchen sie sich nur um ihren Status zur Kirche und in der Kirche Sorgen zu machen. Wenn sie also ihre Versammlungen besuchen, auf Mission gehen, Berufungen akzeptieren und im Tempel heiraten, dann haben sie ihre geistige Reise vollendet. Aber die Seele lässt sich nicht so einfach zufrieden stellen.

Viele Mitglieder der Kirche, die ich kenne und die ich für emotional reif und bedacht halte oder die einfach nur nach tieferer spiritueller Entwicklung hungern und dürsten, erfüllen ihre Bedürfnisse ausserhalb des HLT Gottesdienstes, der Berufung und der traditionell mormonischen spirituellen Praktiken. Sie besuchen Yogaklassen, gehen auf Meditationsseminare oder nehmen an Programmen oder Therapien für persönliches Wachstum teil. Viele tun das heimlich, um nicht suspekt oder untreu zu erscheinen. Manchmal hören wir eine stichhaltige Ansprache, wie zum Beispiel die Generalkonferenzansprache “Werden – Unsere Herausforderung” von Dallin H. Oaks vom Oktober 2000, die diesen externen Fokus in das rechte Licht rückt und uns zu innerer Entwicklung ermutigt. Allerdings haben wir weder die Kultur noch die Praktiken oder die Traditionen, die innere und geistige Entwicklung fördern könnten. Tatsächlich fürchten wir diese Dinge sogar.

Alan Watts schreibt: “Ein Christentum, das nicht grundsätzlich mystisch ist, wird entweder zu einer politischen Ideologie oder zu einem gedankenlosen Fundamentalismus… Ohne mystische Erfahrung ist Religion nur ein sinnloses bemüht sein, einem Lifestyle zu folgen, für den man weder die Kraft noch die Fähigkeit hat.13 

Man beachte das folgende Zitat des Apostels Paulus: “Wir trachten nicht nach den Dingen, die man sehen kann, sondern nach den Dingen, die man nicht sehen kann. Denn die Dinge, die man sehen kann sind zeitlich, aber die Dinge, die man nicht sehen kann, sind ewig.14  Zu “sehen” oder “nicht (zu) sehen” ist klar ein Hinweis auf die innere und spirituelle Wahrnehmung. Man bedenke Jesu Ausspruch: “Geht ein durch die enge Pforte! … Denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind es, die ihn finden.” 15 Warum ist die Pforte eng und der Weg schmal? Warum finden so wenige diese Pforte? Weil sie in uns gefunden werden muss, in der “unsichtbaren” Dimension. Die mormonische Kultur ist so fokussiert auf das Äusserliche, dass nur wenige die spirituelle Veränderung erleben, die man erlebt, wenn man nach innen blickt.

Bedenke Jesu Antwort für die religiösen Führer seiner Zeit, die auch auf das Äusserliche konzentriert waren: “Die Pharisäer wollten von Jesus wissen: »Wann wird denn die neue Welt Gottes kommen?« Er antwortete ihnen: »Die neue Welt Gottes kann man nicht sehen wie ein irdisches Reich. Niemand wird euch sagen können: ›Hier ist sie!‹ oder ›Dort ist sie!‹ Die neue Welt Gottes ist schon jetzt da — mitten unter euch.” 16

Das Reich Gottes ist in uns selbst. Aber eines der Auswirkungen des Falles Adams war eine Veränderung unseres Wesens von unserer ureigensten spirituellen Natur zu dem, was das Buch Mormon als “natürlichen Menschen” bezeichnet, der in seinem Verständnis, seiner Ausrichtung und seiner Erfahrung auf das Äusserliche ausgerichtet ist und somit anfällig wird für die Schwächen und Fehler der “sichtbaren” oder “zeitlichen” Welt. Allerdings schliesst die Vereinnahmung unseres Selbst durch den “natürlichen Menschen” keinesfalls die Tatsache aus, dass wir göttlichen Eltern entstammen und somit alle Eigenschaften und das Potenzial Gottes besitzen – das ist das Reich Gottes in uns.

Der Mormonismus hat ein aussergewöhnliches Potenzial, eine inspirierende, fruchtbare mystische Tradition zu erzeugen. Aber trotz der vielen Aufforderungen und Lehren der Heiligen Schriften, die Geheimnisse des inneren Pfades zu entdecken, rät unsere Kultur weiterhin von diesem Weg ab und betont die “Grundlagen”.

 

Gemäss Lehre und Bündnisse 84:19-27 gaben die Israeliten ihre Suche nach den “Geheimnissen des Reiches Gottes, nämlich dem Schlüssel der Gotteserkenntnis” auf und anstatt dass sie den heiligenden und vervollkommnenden Einfluss des Heiligen Geistes und von Gottes Gnade empfingen, gab Gott ihnen stattdessen ein “vorbereitendes Evangelium” und “fleischliche Gebote” – äusserliche Handlungen. Später fügten die Schriftgelehrten und Pharisäer ihre eigenen Bewertungssysteme für Stand und Würdigkeit diesen Gesetzen hinzu und sogar noch weitere äusserliche Handlungen. Haben wir, genau wie das alte Israel, auch unsere Suche nach den Geheimnissen und der Erkenntnis Gottes aufgegeben? Haben wir, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, unser eigenes System von Würdigkeitsmaßstäben und äusseren Handlungen geschaffen? Haben wir als Heilige der Letzten Tage die Fülle des Evangeliums und den mystischen Zweck eines höheren Priestertums abgelehnt und durch ein vorbereitendes “zurück zu den Wurzeln”-Evangelium ersetzt, einer Art mosaischem Gesetz der letzten Tage? Lehnen wir es ab, in das Reich einzugehen und hindern wir auch andere daran, die es eigentlich gerne tun würden?

Das Alte Testament, das Neue Testament und das Buch Mormon beschreiben häufig die sehr menschliche Eigenschaft, den inneren Weg göttlicher Geheimnisse und Wissens gegenüber äusserlicher Religion und weltlicher Ziele zu vernachlässigen. Auch in Lehre und Bündnisse 84 und in den Lehren von Jesus und Paulus lernen wir, dass ein vorbereitendes Evangelium uns nicht heiligen kann und uns auch nicht zum Reich Gottes führen kann. Seit Jahrzehnten lehren wir nun schon Evangeliumsgrundlagen und wundern uns nun über eine ganze Generation von Heiligen der Letzten Tage, die en masse die Kirche verlassen. Unsere Antwort auf diese Entwicklung ist, die Grundlagen noch grundlegender zu machen und weiterhin die falsche Meinung zu hegen, dass das Halten von fleischlichen Geboten zu spiritueller Wiedergeburt führt. Wenn das aber wirklich so wäre, dann wäre der ältere Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn geheiligt, vergebungsbereit und erfreut, anstatt richtend und ohne Mitgefühl und Liebe. Das Halten von äusserlichen Geboten ist notwendig aber letztlich steril, ohne dass ich in das Geheimnis Gottes vor dringe: dem Zufliessen von Gottes Gnade.

Die Heiligen der Letzten Tage, die an der Meinung fest halten, dass das Halten äusserlicher Gebote die wichtigste spirituelle Handlung sei, lehnen ab, was Paulus gelehrt hat, nämlich dass es der Sinn und Zweck der Gebote ist 1. das Wesen der Sünde und Gottlosigkeit in uns allen zu offenbaren und 2. uns vor Augen zu führen, dass wir als “fleischliche Menschen” überhaupt nicht in der Lage sind, die Gebote voll und ganz zu halten und dass ein Gehorsam zu den äusserlichen Geboten einen Menschen spirituell nicht verändern kann. Und 3. uns zu der errettenden und vervollkommnenden Macht der Gnade zu führen.

Wenn wir erkennen, dass wir nicht alle Sünden vermeiden können oder durch Gehorsam zu den äusseren Geboten wie Christus werden können, dann soll uns das nicht entmutigen, sondern uns dazu motivieren, den inneren Pfad spiritueller Wiedergeburt zu suchen, durch den wir den natürlichen Menschen transzendieren und zu einer “neuen Schöpfung in Christus” werden.

Der Apostel Paulus nannte das Gesetz des Moses einen “Lehrmeister”, der uns zu Christus führen soll und der uns dann aus Gnade errettet. “Aus Gnade errettet” sein ist ein Prozess des inneren Pfades und der geistigen Wiedergeburt. Der “wir”, der nicht in der Lage sei, die äusserlichen Anforderungen ganz zu erfüllen, ist das, was Paulus als “das Fleisch” bezeichnet – im Gegensatz zu dem, was Paulus als den “inneren Menschen” (Galater 3:16) bezeichnet oder mit Jenen meint, die “im Geist” leben. Das Buch Mormon nutzt die Begriffe “natürlicher Mensch” oder “fleischlicher Mensch” oder auch “Fleisch” auf die selbe Weise. Der “Innere Mensch” ist dann natürlich unser innerstes Wesen – unser ewiges, geistiges Wesen.

Die meisten Menschen erfahren sich selbst als eine einzigartige Ansammlung von physischen Sinneseindrücken, Gedanken, Gefühlen, Grundsätzen, Ängsten, Bedürfnissen und Wünschen, die alle mit dem verwoben sind, was sie zu sein meinen und dem, was sie denken, die Welt und die anderen Menschen um sie herum wären. Dieser Cocktail aus Wahrnehmung und Erfahrung ist selbst ein Teil des Fleisches – der externen und zeitlichen Welt. Da es selbst einer ewigen Wirklichkeit verlustig geht, lässt es einen mit einem Gefühl von Ungenügen und Mangel zurück.

Dieses “Fleisch” oder dieser “natürliche Mensch” ist im Übrigen auch nicht zu vervollkommnen, weil er eine Fiktion ist, nur eine Sache begrenzter Wahrnehmungen und Erfahrungen. Deswegen können Mormonen, oder irgendwelche anderen religiösen Menschen, jahrzehntelang versuchen, sich selber zu vervollkommnen und bleiben dennoch nur enttäuscht und frustriert zurück. Der “natürliche Mensch” lässt sich nicht reinigen, egal wie viele Gebote wir versuchen auf ihn zu stapeln. Es ist sein Schicksal, zusammen mit und in Christus gekreuzigt zu werden, während wir in der spirituellen Wiedergeburt eins mit Gott werden. Wir zögern noch, denn das Fleisch ist die Art und Weise, wie wir uns wahrnehmen und deshalb wollen wir nicht, dass es stirbt. Allerdings ist ja der Tod des natürlichen Menschen genau das Thema bei der geistigen Wiedergeburt und der Wiederauferstehung und Erneuerung in ein geistiges Leben.

Im Evangelium geht es nicht darum, das “Fleisch” zu einem guten Menschen zu machen, der sich für das Reich Gottes “würdig” macht. Alle unsere Versuche das zu erreichen, werden scheitern und versuchen nur, uns weiter mit diesem ungenügenden, mangelhaften, fiktionalen Selbst zu identifizieren. In Römer 12.2 sagt Paulus: “Und passt euch nicht diesem Weltlauf an, sondern lasst euch [in eurem Wesen] verwandeln durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.” Mit anderen Worten, ohne diese Umwandlung kann man den vollkommenen Willen Gottes überhaupt nicht verwirklichen, weil der “natürliche Mensch”, der sich dieser Welt angepasst hat, dies gar nicht bewerkstelligen kann. Diese Umwandlung und Wiedergeburt kann nur dann geschehen, wenn wir unsere Identität und Selbstempfinden vom äusseren, “natürlichen Menschen” hinein in unser göttliches, inneres Selbst versetzen. Dies kann nur auf dem inneren Pfad der Gnade geschehen.

Das Buch Mormon, so wie das Neue Testament, proklamiert ausdrücklich, dass es nur in und durch die Gnade Gottes geschieht, das wir errettet, geheiligt und vervollkommnet werden können. Paulus schreibt, dass wir aus Gnade errettet werden und nicht aus uns selbst errettet werden, nicht aus Werken, damit niemand damit prahle – es ist eine Gabe.18  Sein Standpunkt ist, dass der “natürliche Mensch” nichts mit Errettung zu tun hat. Er ist das Hindernis.

Moronis Formel für spirituelle Wiedergeburt ist:  “verzichtet auf alles, was ungöttlich ist,” und “[liebt] Gott mit all eurer Macht, ganzem Sinn und aller Kraft” “…damit ihr durch seine Gnade in Christus vollkommen seiet.19

Da ungöttliche Gedanken und Taten uns weiter in den “natürlichen Menschen” hinein ziehen, ist das Halten von moralischen Gesetzen und Geboten wichtig, damit wir uns und unsere Umwelt stabilisieren und anfangen, Gott auf der seelischen Ebene zu lieben. Diese Art der Liebe zu Gott ist unmöglich, wenn unsere Aufmerksamkeit auf die Sünde gerichtet ist (der verlorene Sohn) oder auf unseren Status, unsere Würdigkeit und unseren Erfolg in äusserlichem Gehorsam (der ältere Sohn). Dies ist nur möglich, wenn man die Praktiken des inneren Pfades erlernt, wie kontemplatives Gebet oder Meditation, wo der Geist mit dem Geist Gottes kommuniziert. Es ist diese Kommunikation mit Gott, die uns Zugang zum reinigenden Einfluss der Gnade Gottes verschafft und die unsere geistige Natur wieder herstellt.

 

Es gibt zwei Gründe, warum Mormonen häufig die Lehre von Paulus und aus dem Buch Mormon, das der Mensch durch Gnade errettet und vervollkommnet wird, ablehnen : 1. Wir haben auf die falschen Lehren über Gnade in anderen christlichen Kirchen über-reagiert und 2. Wir haben den Sinn des Sühnopfers missverstanden.

Als Antwort auf die Rechtfertigungslehre in vielen christlichen Kirchen, die in unangemessener Weise die Notwendigkeit von persönlicher Moral und Verantwortung minimiert, haben die Heiligen der Letzten Tage ihre eigene falsche Lehre geschaffen, dass wir errettet werden aus einer Mischung zwischen dem Halten der Gebote und Gottes Gnade. Wir lieben es, immer und immer wieder 2. Nephi 25:23 zu zitieren: “Denn wir wissen, dass wir durch Gnade errettet werden, nach allem, was wir tun können.” …mit einer besonderen Betonung auf “tun“, so als wäre die Gnade die Kirsche auf dem Eisbecher unserer guten Werke. Tausende Male habe ich in der Sonntagsschule, im Seminar und in Institutsklassen gehört, dass unsere guten Taten uns fast bis an die Tore des himmlischen Reiches bringen, aber da wir immer noch nicht ganz vollkommen sind, brauchen wir diesen einen letzten Schups der Gnade, der uns rein bringt. Diese Lehre impliziert, dass die Gnade Gottes Akzeptanz der letzten verbleibenden Schwächen und Fehler des treuen Mitglieds ist, anstatt einer heiligenden Liebe und Kraft, die uns in Christus vollkommen macht.

Aber Lehre und Bündnisse 93:12-13 und 20 beschreibt uns, dass so wie Jesus Gottes Fülle dadurch empfing, in dem er von Gott Gnade um Gnade empfing und in Gnade und Gnade weiter ging, so müssen auch wir es ihm gleich tun. Mit anderen Worten, Gnade ist nicht die Kirsche auf dem Eisbecher guter Werke, sondern Gnade ist die Eiscreme, die Sahne, die Schokostreusel und die Kirsche im Becher unseres Leibes, den wir vom natürlichen Menschen befreit haben. Die Arbeit des inneren Pfades ist das Loslassen unserer Anhaftung an und Identifikation mit dem “natürlichen Menschen” und das Erlernen, wie diese wunderbare, geheimnisvolle Gnade und Liebe Gottes empfangen werden kann. Erst dann erfahren wir, dass “das Joch leicht” ist und was “die Ruhe des Herrn” bedeutet, weil wir nicht nur damit beschäftigt sind, das zu vervollkommnen, was nicht vervollkommnet werden kann. Paulus beschreibt dieses Dilemma des “natürlichen Menschen” sehr gut in Römer 7:18-24:

“Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, aber das Vollbringen des Guten gelingt mir nicht. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das verübe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Ich finde also das Gesetz vor, wonach mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen; ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das gegen das Gesetz meiner Gesinnung streitet und mich gefangen nimmt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. – Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Todesleib?”

Während wir Gnade um Gnade empfangen, werden die alten Muster und Angewohnheiten des fleischlichen Menschen geschwächt. Wenn das innere Wesen gereinigt wird, wird auch das äussere Wesen gereinigt und plötzlich fällt es einem leicht, Entscheidungen im Einklang mit der göttlichen Natur zu treffen. Und irgendwann wird das Gesetz für uns wie tot, wie Paulus und Nephi beschrieben haben. Wir sind erwachsen geworden und brauchen das Gesetz nicht länger als Leitfaden, der uns sagt, wie wir leben sollen.

In der Kirche wurde mir immer wieder gesagt, dass das Sühnopfer ein Ereignis war, das zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort statt gefunden hat. Aber das Buch Mormon beschreibt das Sühnopfer als unendlich und ewig; also als etwas, das sich im zeitlosen Raum bewegt und also nicht etwas sein kann, das in Raum und Zeit stattgefunden hat. In meiner Erfahrung ist das Sühnopfer Jesu Christi das grosse Symbol für die Einheit mit Gott und die erfahrene Errettung, während dieses Symbol durch spirituelle Wiedergeburt verwirklicht wird. Einheit mit Gott war schon immer und wird für immer die Basis unserer Existenz sein. Wir haben diese Erinnerung verloren, um die Weisheit zu erlangen, die sich entwickelt, wenn wir vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nehmen. Durch spirituelle Wiedergeburt werden wir zu unserer essenziellen und frohen Einheit mit Gott wiedervereinigt – das Sühnopfer.

Was Jesus im Garten von Gethsemane und auf dem Kreuz tat war nicht, dass er das Sühnopfer “gemacht” hat. Stattdessen hat er die Wirklichkeit des Sühnopfers offenbart, sowie die inneren spirituellen Prozesse aufgezeigt, die wir praktizieren sollten, um in ihnen zu erwachen. Diese Prozesse beinhalten die vollständige Hingabe zu Gottes Willen, die Aufgabe und Kreuzigung aller Neigungen des “natürlichen Menschen” und eine vollständige Bereitschaft, dem inneren Weg der Gnade zu folgen.

Die Errettung durch Gnade ist die leichteste und die schwerste Sache, die man erfahren kann. Leicht, weil man es dadurch erreicht, das man Gottes Liebe annimmt. Schwer, weil wir dem Tod des natürlichen Menschen unsere Zustimmung geben müssen. Im Moment seines Todes wird der “natürliche Mensch” dir sagen, “warum hast Du mich verlassen?”, in der Hoffnung, dich weiter an ihn zu binden. Aber wenn du das göttliche Wesen deiner Seele im Zwiegespräch mit Gott erfahren hast, dann kannst du ihn fahren lassen, ihn sterben lassen und sagen: “Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.” und in sein Reich eingehen.

Unser Missverständnis oder sogar Ablehnung eines inneren Pfades der Errettung aus Gnade hat uns blind gemacht für das erfreuliche Geheimnis des Sühnopfers und hat viele Heilige der Letzten Tage daran gehindert, mit dem “Schlüssel der Erkenntnis” das Reich Gottes zu betreten.

Der Mormonismus befindet sich nicht länger deshalb in der Krise, weil Angriffe von aussen kommen, sondern als Ergebnis von Langeweile und innerer Rastlosigkeit – dem Verlust von vielen klugen, einfühlsamen und kreativen Seelen, die kurz vor dem Eingang in ein Reich aus Liebe und Licht am Eintritt gehindert werden. Spirituelles Leben sollte lebendig, frisch und immer neu sein können. Wir brauchen einen lebendigen Glauben, der mit seinen Mitgliedern wachsen kann aber so etwas kann nur von einer lebendigen Religion kommen. Hier noch mal ein Zitat von Alan Watts aus seinem Buch “Behold the Spirit”, “Die Religion Jesu ist zu einer Religion über Jesus verkommen und hat ihr Wesentliches verloren… der eigentliche Zweck des Evangeliums ist, das jeder Mensch die Vereinigung mit Gott genau so erfahren kann, wie Jesus selbst.” 24

1. Johannes 4:17-18 drückt dies am elegantesten aus: “Hierin ist die Liebe bei uns vollendet worden, dass wir Freimütigkeit haben am Tag des Gerichts, denn wie er ist, sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus… Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe.

Furcht ist der Zustand des “natürlichen Menschen”; vervollkommnete Liebe ist der Zustand einer ungebrochenen Intimität in der Beziehung mit Gott. Ich sprach neulich mit der Frau eines Heiligen der Letzten Tage im mittleren Alter, der schwer an Krebs erkrankt war und sterben würde. Angsterfüllt ging sie durch die Standard HLT-Checkliste von Geboten und Verordnungen und hoffte, da ihr Mann zwar nicht perfekt gewesen sei, dass er aber doch wenigstens “gut genug” gewesen sei und dass er “genug” getan habe. Ohne Wissen und Erfahrung mit dem inneren Reich gehen viel zu viele Heilige der Letzten Tage dem Ende ihres Lebens entgegen und empfinden Zweifel und Sorge anstatt Liebe und Zuversicht.

Lass nicht zu, dass unsere Kultur und äussere Leistung dich von einem Kennenlernen des inneren Pfades abbringen, von dem heiligenden Einfluss von Gottes Liebe und Gnade und von einer direkten Kenntnis des Wertes deines spirituellen Wesens und von der Freude der Vereinigung mit Gott. Am Tag des Gerichts kannst du und wirst du Zuversicht haben, wenn du eh schon in das Reich Gottes eingegangen bist. Lass dich nicht daran hindern.

 

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Fussnoten

 

 

 

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